W. Meyer. Leben im Mittelalter zwischen Alltag und Krieg

Cover
Titel
Haferbrei und Hellebarde. Leben im Mittelalter zwischen Alltag und Krieg


Autor(en)
Meyer, Werner
Erschienen
Oppenheim am Rhein 2021: Nünnerich-Asmus Verlag & Media GmbH
Anzahl Seiten
352 S.
von
Heinrich Speich

1986, als Werner Meyers «Hirsebrei und Hellebarde. Auf den Spuren des mittelalterlichen Lebens in der Schweiz» in zweiter Auflage erschien, habe ich mein ganzes Taschengeld dafür zusammengespart – Werner Meyer (*1937) war ein Idol meiner Kindheit. Da war mir noch nicht bewusst, wie raffiniert sein Ansatz war: Der Blick auf den mittelalterlichen Alltag, welcher sogar die archäologische Erforschung mittelalterlicher Latrinen integrierte, war neu, unbequem und gerade deshalb bei den Jüngeren beliebt. Es galt als Markstein der Schweizer Mediävistik in den 1980er und 1990er Jahren, und hat zusammen mit den Forschungen von Roger Sablonier und Guy P. Marchal den social turn in der Geschichtswissenschaft einem breiteren Schweizer Publikum zugänglich gemacht. Dazu griff Meyer gerne in die archäologische Trickkiste und machte den Slogan «Der Boden lügt nicht» über die Zunft hinaus bekannt. Dass sich die Erforschung des Schweizer Mittelalters nicht mehr am Rütlischwur abarbeiten muss, ist massgeblich sein Verdienst.

36 Jahre – oder mehr als eine Forschergeneration später – erscheint eine nur unwesentlich ergänzte Ausgabe unter neuem Titel, welche dem heutigen Leser den längst vergriffenen Band erneut zugänglich machen möchte. Die erklärte Absicht ist, den engen geographischen Fokus der Eidgenossenschaft mit weiteren Beispielen aufzubrechen und so dem erarbeiteten Modell weiter reichende Geltung zu verschaffen. Der Band wird damit quasi zum Handbuch des spätmittelalterlichen Alltags, zu einer Zusammenstellung des etablierten Basiswissens mit Beispielen vor allem aus dem ausserordentlich quellenund bildreichen eidgenössischen Raum. Der Leserschaft bietet der Band einen reichhaltig bebilderten, auf ein interessiertes Laienpublikum zugeschnittenen Einstieg.

Meyer malt das grosse Tableau des mittelalterlichen Alltags, in welchem er die ältere (eidgenössische) Historiographie, Ethnographie, Archäologie und Sozialgeschichte konzis, gut lesbar und spannend verknüpft. Im ersten Teil «Wildnis und Wohnlichkeit» (S. 14–87) leitet er die materielle und soziale Entwicklung der Gesellschaft aus den naturräumlichen Bedingungen her. Dabei schöpft er aus seinen langjährigen Forschungen zu alpinen Wüstungen und Burgen und bietet einen souveränen Überblick. Über sinnliche
Erfahrungen führt Meyer den Leser an zentrale (ältere) Konzepte der mittelalterlichen
Wirtschaft und materiellen Kultur heran und erläutert diese mit Bildern und farblich
abgesetzten Quellenzitaten. Das folgende Kapitel «Herrschaft und Gesellschaft» (S. 88–
141) wurde für das erweiterte Publikum überarbeitet. In den Kapiteln «Das Alltagsleben» (S. 142–195), «Das Zeitalter des Glaubens» (S. 196–227) und «Das Fest» (S. 228–252) entwirft Meyer anhand eingängiger Beispiele – die meisten davon aus den sog. Schweizer Bilderchroniken – ein pastoses Bild des mittelalterlichen Alltags, insbesondere auf dem Land. Spätestens hier stossen dem Leser die knallbunten Pauschalisierungen jedoch etwas auf und man sehnt sich nach einem differenzierteren Bild, welches regionalen Abweichungen Rechnung trägt – gerade weil der Band ja um zusätzliche deutschsprachige Gebiete erweitert wurde. In den beiden abschliessenden Kapiteln «Recht und Gewalt» (S. 253–278) und «Krieg und Frieden» (S. 279–325) kann Meyer wieder mit der Verbindung archäologischer Erkenntnisse mit Bild- und Quellendarstellungen punkten. Dabei stösst er allerdings auch an seine Grenzen: Die Dynamik von Rechtsanwendung und Rechtsempfinden im sozialen und politischen Spannungsfeld sind damit nur schwer vermittelbar. So wird ein einseitiges, auf schaurige Folter- und Hinrichtungspraktiken zugespitztes Bild der spätmittelalterlichen Rechtspraxis entworfen, dessen Gültigkeit sogar für den Schweizer Raum fraglich ist. Die Darstellung blutiger Rechtsrituale diente vor allem der Vergegenwärtigung einer gut funktionierenden Ordnung, was der Autor zu wenig betont. Das Kriegswesen stellt Meyer wieder an Beispielen aus dem eidgenössischen Raum dar und erweitert es um ein Kapitel zur abendländischen Seefahrt (S. 319–323). Es folgt eine «Schlussbetrachtung» (S. 326–329), in welcher er zur Bescheidenheit in Anbetracht der Andersartigkeit des Mittelalters aufruft und zu klären versucht, wo dieses nach wie vor den Blick auf die Gegenwart schärfen könnte.

Am Ende hinterlässt der Text den Rezensenten perplex und die Frage nach dem Mehrwert der Neuausgabe bleibt offen. Die einst kühne Kombination aus Archäologie und Sozialgeschichte, mit welcher Meyer noch in den 1980er Jahren die sklerotisierte Schweizer Geschichte aufmischte, lässt sich nicht einfach auf den deutlich grösseren, und kulturell differenzierten Raum des mittelalterlichen Reiches hochskalieren. Der Versuch scheitert und so wertet Meyer auch das regional Exemplarische des Schweizer Mittelalters ab, welches die Stärke des ursprünglichen Bandes war. Es reicht nicht, die Neuausgabe einfach ohne das für die Entstehungszeit (1985) typische Kapitel «Vom Dreiländerbund zur dreizehnörtigen Eidgenossenschaft» abzudrucken und die Bibliografie kosmetisch zu ergänzen; ein Übersichtswerk des 21. Jahrhundert kommt nicht ohne eine kritische Reflexion der angewandten Konzepte und Begriffe aus, etwa einer reichlich überholten Vorstellung des Heiligen Römischen Reiches als «Personenverband» (S. 88), Begriffen wie «Brauch und Sitte» (S. 253) oder dem vieldiskutierten Schweizer «Sonderfall» (S. 91).

Die Stärke des ursprünglichen Konzeptes, mit ihrer Verbindung von zeitgemässer politischer Geschichte, Archäologie und traditionellen populären Geschichtsbildern, wurde zugunsten einer erweiterten Käuferschaft allzu leichtfertig aufgegeben. Schade; der Text verliert dadurch seine Geltungskraft und Verankerung in der eidgenössischen Geschichte.

Zitierweise:
Speich, Heinrich: Rezension zu: Meyer, Werner: Haferbrei und Hellebarde. Leben im Mittelalter zwischen Alltag und Krieg, Oppenheim am Rhein 2021. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72(3), 2022, S. 447-448. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00114>.